Politisierung des Feuerinfernos in der Türkei

Seit neun Tagen verschlingen Waldbrände die sagenhaft schöne Mittelmeerküste der Türkei und verkohlen wertvolle Wälder und Fauna. Acht Menschen kamen bisher ums Leben, Tausende mussten evakuiert werden. Die verheerenden Brände zerstörten Lebensräume im Westen des Landes, aber auch in der Provinz Edirne direkt an der bulgarischen Grenze sowie in Tunceli, der malerischen, überwiegend von Kurden bewohnten Provinz Zentralanatoliens, in der die Flammen zum Tod von dichten Wäldern, Bienenstöcken und Dutzenden von Maultieren führten.

Laut offiziellen Angaben konnten von insgesamt 187 Bränden 172 in 35 Provinzen mittlerweile gelöscht werden. Das Inferno in den verbleibenden Brandherden scheint jedoch nicht abzuklingen. Rettungsmannschaften evakuierten bei Milas in der westlichen Provinz Muğla am Donnerstagmorgen Hunderte von Dorfbewohnern auf dem Seeweg, da sich ein wütendes Feuer einem Wärmekraftwerk nordöstlich von Bodrum, in dem Tausende von Tonnen Braunkohle gelagert werden, gefährlich genähert hatte. Noch traut sich niemand, die Folgen für die milliardenschwere türkische Tourismusindustrie, die grösstenteils im Westen der Türkei angesiedelt ist, auch nur zu beziffern.

Den Ernst der Lage kaum realisiert

Angst, Verzweiflung und Wut machen sich in der Bevölkerung breit. Gleichzeitig wächst die Kritik an der Regierung, der man vorwirft, bei der Bekämpfung der Katastrophe massiv versagt zu haben. Die Allianz von Islamisten und Rechtsnationalisten, die seit 2016 in Ankara regiert, schien anfänglich den Ernst der Lage tatsächlich kaum realisiert zu haben: Als am 28. Juli der erste Grossbrand bei Manavgat ausbrach und Athen seine Hilfe anbot, wurde das Angebot sogleich zurückgewiesen. Die Regierung fand, Hilfe aus dem Ausland sei für ihre „stolze“ Nation unwürdig. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan machte öffentlich „kurdische Brandstifter“ als Verursacher der Brände aus, und seine ihm ergebene Presse führte die Katastrophe auf die „gemeinsame Bedrohung durch die (kurdische Partei) PKK und Griechenland“ zurück.

Die griechischen Löschflugzeuge trafen nie in der Türkei ein, auch weil bald darauf Griechenland selbst Opfer des fortschreitenden Klimawandels wurde. Seit einer Woche sorgt eine einmalig lange Hitzewelle in Griechenland wie in der Türkei für Temperaturen von über 45 Grad – und für verheerende Waldbrände: Waldbrände verschlingen bei Varybombi die „grüne Lunge“ der griechischen Hauptstadt Athen und bedrohen gleichzeitig das antike Stadium von Olympia.

Weil die Regierung in Ankara keine „Hilfe vom Ausland“ annehmen wollte, liess sie Zeit verstreichen, die bei der Bekämpfung von Bränden so wichtig ist. Von dieser Haltung rückte Ankara erst ab, als die Unzulänglichkeiten der Regierung immer offensichtlicher wurden. So verfügt das Land beispielsweise über keine einsatzfähigen Löschflugzeuge. Präsident Erdoğan bedankte sich Anfang dieser Woche persönlich bei seinem russischen Amtskollegen Putin, weil Russland als erstes Land Löschflugzeuge in die Türkei geschickt hatte. Dann schickte auch die EU drei Canadair-Löschflugzeuge, zwei aus Spanien und eines aus Kroatien. Mittlerweile haben neben Russland und der EU die Ukraine, Moldawien, Georgien, der Iran und Aserbaidschan Feuerwehrausrüstung geschickt, um bei den Eindämmungsbemühungen zu helfen. Ein Hilfsangebot Israels wurde laut der dortigen Presse ähnlich wie das Athener Angebot allerdings abgewiesen.

„Helft der Türkei“

Bilder von verkohlten Wäldern und verendeten Tieren beherrschten bis letzten Mittwoch noch die sozialen Medien, und die Kritik richtete sich nun auch gegen Präsident Erdoğan persönlich: «Es gibt einen Sommerpalast mit 300 Zimmern in Marmaris, aber keine Flugzeuge, um Brände in Marmaris zu löschen“, empörte sich Mursel Alban, ein Abgeordneter der grössten oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP). Er forderte den Rücktritt der Regierung. „Kommt Ihnen das nicht auch seltsam vor? Dreiundfünfzig Fahrzeuge und 220 Soldaten kommen aus dem brüderlichen Aserbaidschan, um die Brände in unseren Wäldern zu löschen, und der türkische Soldat ist nirgends zu sehen!“, wunderte sich der Journalist Barış Yarkadaş, ein ehemaliger CHP-Abgeordneter in einer Kolumne, die er für die oppositionelle Zeitung „Korkusuz“ schrieb. Dass die türkischen Streitkräfte über eine Woche lang nicht bei der Bekämpfung der Brände eingesetzt wurden, obwohl sie über entsprechende Kompetenzen und Ressourcen verfügen, führte Yarkadaş auf die «Putsch-Paranoia, in der diese Regierung ständig lebt» zurück. Ein Hashtag «Helft derTürkei» wurde millionenfach getwittert – was als klares Zeichen dafür verstanden wurde, dass die in Bedrängnis geratene Bevölkerung ihren Behörden nicht mehr traut und um Hilfe von aussen bittet.

Am Mittwoch hat das türkische Verteidigungsministerium erstmals ein Landungsboot und ein Patrouillenboot in die Gewässer vor der Ägäisküste entsandt, um die Löscharbeiten gegen die Waldbrände in der südwestlichen Provinz Muğla und mögliche Evakuierungen zu unterstützen. Als die Sirenen zur Evakuierung des Gebiets aufriefen, stiegen die Bewohner mit den wenigen Habseligkeiten, die sie aus ihren Häusern retten konnten, in die Boote der Küstenwache, die aus dem Hafen von Eren – nicht weit von der Stadt Milas, an deren Grenze das bedrohte Wärmekraftwerk liegt – herbeigeholt wurden, berichteten Reporter der französischen Presseagentur.

Verschwörungstheorien

Dann ging die Regierung zum Gegenangriff über: Am Donnerstagmorgen hat die Generalstaatsanwaltschaft in Ankara eine Untersuchung gegen die Initianten des Hashtags „Helft der Türkei“ eingeleitet. Die Staatsanwaltschaft sagte in einer von lokalen Medien wie der „Gazete Duvar“ publizierten Erklärung, einige Einzelpersonen und Gruppen wollten die Öffentlichkeit mit echten oder erfundenen Berichten in Angst und Schrecken versetzen und sie würden versuchen, den Staat und die Regierung der Republik Türkei zu demütigen. In dieselbe Kerbe hatte kurz zuvor auch Fahrettin Altun geschlagen, der Kommunikationsdirektor von Präsident Erdogan. Die über die sozialen Medien verbreiteten Aufrufe zur Hilfe aus dem Ausland seien von einem «einzigen Zentrum im Ausland» orchestriert worden, um das Land zu schwächen und es als «machtlos» darzustellen, sagte er.

Erdoğan hatte bereits am Mittwoch in einem Interview mit dem Nachrichtensender Ahaber die Initianten des Hashtags für die Verbreitung von Falschnachrichten kritisiert: „Glauben sie, dass sie uns mit Lügen zerstören können?“, fragte er rhetorisch. Wie sein Kommunikationsdirektor beschuldigte auch der Präsident pauschal externe Mächte, die Kampagne zu finanzieren.

Hilal Kaplan, eine einflussreiche Journalistin aus dem engsten Umkreis des Präsidenten, äusserte am Mittwoch die Befürchtung, dass die Waldbrände als Vorwand für einen Militärputschversuch dienen könnten. „Man warf mir Paranoia vor, als ich vier Monate vor dem 15. Juli 2016 über die Möglichkeit eines Putsches schrieb“, kommentierte sie in der Tageszeitung „Sabah“, dem Leibblatt der Regierung. Sie bezog sich auf den Putschversuch der Armee, den Erdoğan zum Anlass nahm, um fortan jegliche Opposition im Keim zu ersticken, seine Alleinmacht zu zementieren und die Türkei in eine Autokratie zu verwandeln. Hilal Kaplans letzter Satz hörte sich wie eine unmissverständliche Mahnung an die heutige Opposition an: „Nun werden sie denselben Trick anwenden… Lassen Sie uns diesen Bericht mit dem Satz abschliessen, mit dem ich den damaligen Bericht betitelte: <Wir sind bereit>.»