Kasachstan: Ein Bündnisfall?

«Kann die Revolte Kasachstans auch Aserbaidschan ereilen?» – Diese Frage hält Aserbaidschans Hauptstadt Baku in Atem, seitdem die heftige Protestwelle das zentralasiatische Kasachstan ins Chaos gestürzt hat. Mit gutem Grund: Verglichen mit den übrigen Staaten, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, galt Kasachstan mit seinem 19 Millionen-Seelen-Volk und einer Fläche so gross wie ganz Europa als die weitaus stabilste Republik unter ihnen.

Die soziale Explosion in den kasachischen Städten hat deshalb die meisten Politiker und Experten überrascht und die Gesellschaften der Region gespalten; während die Regierungen beinah unisono von einem Angriff brutaler Terrorgruppen auf die verfassungsmässige Ordnung sprechen, fühlen sich oppositionelle Kräfte inspiriert und wittern Aufwind. «Dies ist ein Aufstand der Menschen gegen eine Regierung, die sie jahrelang ignoriert hat», sagte Arif Gadjily von der Oppositionspartei «Musavat» der Internet-Plattform «Caucasian-Knot». «Autoritäre Regimes sind nicht ewig», kommentierte auch Ali Kerimli von der «Aserbaidschanischen Volksfrontpartei» (PFPA). Erwiesen sie sich als unfähig, die Not ihrer Völker zu lindern, würden sie unausweichlich hinweggefegt werden.

Parallelen kaum zu übersehen

Beide Politiker in Baku ziehen Parallelen zwischen ihren Ländern: Seit 1989 hat Nursultan Nasarbajew ununterbrochen über Kasachstan geherrscht, bis er 2019 seinen Auserwählten, heutigen Präsidenten Kassym-Jomart Tokajew ins Amt gehieft hat, um hinter den Kulissen die Fäden der Macht weiterhin zu behalten.

Seit 1991 lenkt in Aserbaidschan die Dynastie der Alijews ununterbrochen die Geschicke ihrer Republik mit eiserner Hand. Während der Ära dieser Langzeitherrscher entstanden zwei völlig korrupte Staaten mit einer korrupten Elite, die Ressourcen und Geld in ihren Händen konzentriert und die Bedürfnisse ihrer Bürger ignoriert.

Bezeichnenderweise liess die Regierung Kasachstans Anfang Januar relativ unbedarft den Preis von Flüssiggas erhöhen – mit den nun bekannten Folgen. Seit den ersten Tagen des Jahres sehen sich die Einwohner Aserbaidschans plötzlich mit höheren Brotpreisen konfrontiert.

«Unser Volk ist geduldig»

Es war der Vater von Aserbaidschans heutigem Präsidenten, der einen Satz zu wiederholen liebte, sobald er unpopuläre Massnahmen ergriff: «Unser Volk ist geduldig; es nimmt alles reaktionslos hin». Alles? Seit Anfang Januar macht sich Unmut auch auf den Strassen Bakus breit. Kann das Schicksal Kasachstans also auch Aserbaidschan ereilen? Oder anders: Könnte Kasachstan mittelfristig gar zu einem Flächenbrand werden in einer Region, in der die Unterschiede im autokratischen Regierungsstil minim sind, ob in Kasachstan, in Kirgisien, in Turkmenistan und Usbekistan oder in Tadschikistan?

Wie sehr Kasachstans soziale Explosion die Behörden dieser Staaten alarmiert hat, zeigt auch der unerwartet rasche Zusammenschluss ihrer Führungen: Neben China und Russland hat auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan als Vorsitzender der Organisation der türk-sprachigen Staaten, in der alle zentralasiatischen Staaten vereint sind, dem «brüderlichen und freundlichen Kasachstan» die volle Unterstützung zugesichert.

Kurzfristig die Lage in Kasachstan beruhigt

In seiner Rede an die Nation hat Kasachstans Präsident Kassym-Jomart Tokajew mittlerweile erklärt, die verfassungsmässige Ordnung sei grösstenteils wieder hergestellt worden. Gleichzeitig ermächtigte er seine Polizei «auf bewaffnete Banditen» ohne Vorwarnung zu schiessen. Laut offiziellen Angaben wurden bei den tagelangen Unruhen 164 Menschen getötet. Rund 1100 Personen sollen verwundet und über 7000 festgenommen worden sein. Der Präsident rief für diesen Montag einen nationalen Trauertag aus.

Der Trauertag könnte den Anlass zu neuen Protesten geben. Wenn auch die Strassen mehrheitlich unter den Kontrolle der Sicherheitskräfte stehen, ist das Land noch lange nicht stabilisiert: «Rund 95 Prozent der Internetnutzer in Kasachstan sind nach Angaben des Datenanbieters Netblocks seit dem 5. Januar grösstenteils nicht mehr online», schreibt etwa das gut informierte Internet-Portal «Eurasianet».

Ohne Internet keine Nahrungs- und Arzneimittel

Da die meisten Kasachen ihre täglichen Einkäufe mit Debitkarten erledigten, könnten sie ohne Internetverbindung keine Nahrungsmittel und keine Medikamente mehr kaufen. Lange Schlangen würden sich vor Geldautomaten bilden. Der Ausnahmezustand, der bis zum 19. des Monats gelten soll, erschwert zudem die Versorgung des Landes.

Die Protestwelle brach bekanntlich am 2. Januar in der westlichen Stadt Zhanaozen aus und richtete sich anfänglich gegen die Verdoppelung des Preises für Flüssiggas. Sie griff rasch aufs ganze Land über: Am 4. Januar sollen sich laut Augenzeugen allein in der Wirtschaftsmetropole Almaty über 40’000 Demonstranten zusammengefunden haben – es handelte sich um die grösste, friedliche Protestbewegung in Kasachstan überhaupt.

Wer hinter den Randalierern steckt, ist unklar

Die Demonstranten forderten zunächst friedlich politische Reformen und die tatsächliche Entmachtung des alten Präsidenten. Einen Tag später hatte sich das Strassenbild Almatys bereits grundlegend verändert: Bewaffnete Männer plünderten hemmungslos Geschäfte, setzten Ratshäuser in Brand, stürmten die Residenz des Ex-Präsidenten, vergewaltigten Frauen und lieferten sich bewaffnete Kämpfe mit den Sicherheitskräften. Ging es dabei um interne Machtkämpfe innerhalb der kasachischen Elite, wie es aus Kreisen der Präsidentschaft später hiess? Oder agierten die unkontrollierten Randalierer doch im Namen einer Regierung, die bemüht war, ihre Macht dadurch zu konsolidieren, wie Oppositionelle behaupteten? Das ist unklar.

Präsident Kassym-Jomart Tokajew liess jedenfalls nach den ersten Protesten die Preiserhöhung rückgängig machen und schickte die Regierung nach Hause. Er liess ferner den Chef des Inlandgeheimdienstes Karim Masimow sowie zahlreiche höhere Beamten wegen Landesverrats verhaften. In den dramatischen Stunden des 5. Januars ersuchte er schliesslich die «Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit» (OVKS) um Hilfe. Dieser letzte Schritt dürfte seine wohl folgenschwerste Tat gewesen sein.

Bündnisfall gemäss Artikel 2 ?

In der Nacht auf den 6. Januar erklärte der armenische Premier Nikol Pashinjan, der derzeitige Vorsitzende des OVKS, die Bereitschaft der Organisation, «angesichts der Bedrohung der nationalen Sicherheit und der Souveränität der Republik Kasachstan, auch durch Einmischung von aussen, Friedenstruppen für einen begrenzten Zeitraum nach Kasachstan zu entsenden». Die OVKS war kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach dem Beispiel der NATO als Verteidigungsbündnis zwischen Russland, Kasachstan, Kirgistan, Armenien, Belarus und Tadschikistan gegründet worden.

Am 7. Januar legte OVKS-Generalsekretär Stanislaw Zas dem russischen Nachrichtensender RIA Novosti die Gründe für die Entsendung von Friedenstruppen dar: «Artikel 2 des Vertrags über kollektive Sicherheit besagt klar und deutlich, dass die OVKS-Mitgliedstaaten im Falle einer Bedrohung der Sicherheit, Stabilität, territorialen Integrität und Souveränität eines Mitgliedstaates, Massnahmen zur Unterstützung dieses Landes zu ergreifen haben – und genau dies ist im Falle Kasachstans geschehen.»

Rund 2’500 russische Soldaten sollen bereits in Kasachstan eingetroffen sein. Was ihren Aufgabenbereich umfasst, ist unklar. Unklar ist ferner, wie lange diese Truppen in Kasachstan noch bleiben dürfen.

Unmut in Armenien

Dass ausgerechnet der armenische Premier Nikol Paschinjan die Entsendung der Truppen guthiess und auch 100 armenische Soldaten nach Kasachstan zu schicken bereit war, wurde in Armenien von einer Mehrheit der Bevölkerung mit Hohn respektiv Wut begegnet. Nikol entsende ein Militärkontingent, um eine Protestbewegung, die sich gegen das diktatorische Regime auflehne, zu unterdrücken, empörte sich die Menschenrechtlerin Nina Karapetyants in Jerewan. Und fügte hinzu: «Für   Politiker, die selber durch Strassenproteste an die Macht gekommen sind», sei dies zumindest «unmoralisch».

Nikol Paschinjan wurde tatsächlich durch die Strasse an die Macht getragen. Abertausende Armenier demonstrierten im Frühling 2018 täglich in den grossen Städten des Landes und forderten mehr Demokratie und weniger Korruption im Staat. Der Machtwechsel ereignete sich damals friedlich.

Das Bündnis eilte Armenien nicht zu Hilfe

Knapp zwei Jahre später marschierten die Truppen Aserbaidschans mit Hilfe der Türkei im Bergkarabach ein, das damals beinah ausschliesslich von Armeniern bewohnt war. Die Appelle der armenischen Regierung und Nikol Pashinjans persönlich an OVKS, Artikel 2 des Bündnisfalls anzuwenden und dem Mitgliedstaat Armenien «angesichts der Bedrohung der nationalen Sicherheit und der Souveränität der Republik durch Einmischung von aussen» beizustehen, verhallten ins Leere.

Auch im August 2021, als die Truppen Aserbaidschans rund 30 Quadratkilometer armenisches Territorium besetzten, winkte der OVKS-Generalsekretär Stanislaw Zas einmal mehr ab: Die OVKS könne nur «im Fall einer Aggression oder eines Angriffs von aussen handeln», erklärte er damals der Presse. Aber in diesem Fall ginge es «im Wesentlichen um einen Grenzzwischenfall».

Noch haben sich Aserbaidschans Truppen aus dem armenischen Territorium nicht zurückgezogen. Die armenische Bevölkerung kann nicht verstehen, warum ihr Land Truppen nach Kasachstan entsendet, obwohl es in der schwersten Zeit seiner jüngsten Geschichte allein gelassen war.

Allerdings hatte die von Moskau dominierte OVKS nie zuvor in ihrer Geschichte Artikel 2 aktiviert, um Friedenstruppen zu entsenden. Warum also jetzt? Weil die OVKS es versäumt hat, «den Mitgliedstaaten auf deren Ersuchen hin zu helfen, wurde ihr oft vorgeworfen, ein Papiertiger zu sein», schreibt der Experte Joshua Kucera im Internetportal «Eurasianet».

Welche Motive hat Moskau?

Ging es Moskau also lediglich darum, seinen eigenen Mitgliedern Entscheidungskraft zu demonstrieren – gerade zu einer Zeit, als  Belarus, Ukraine und Georgien offene Brennpunkte bilden? Oder fühlt sich der Kreml aufgrund des sich allmählich abzeichnenden neuen Kalten Kriegs vielmehr verunsichert und bestrebt, zentrifuge Kräfte innerhalb seines Einflussgebietes möglichst zu bändigen?

Seit Wochen lassen jedenfalls hochrangige NATO- und USA-Beamte im Fall Ukraine die Muskeln spielen. Die Sprache zu einem gemeinsamen Dialog zwischen Ost und West scheint abhanden gekommen zu sein. Statt zu deeskalieren, giessen beide damit Öl ins Feuer. Die Logik eines jeden Kalten Kriegs schränkt allerdings die liberalen Kräfte ein und macht ihre Bewegungsfreiheit zunichte.

So gesehen scheint auch das Geheul der westlichen Presse um die Verletzung der Menschenrechte in Kasachstan blauäugig zu sein. Denn die Presse trägt die kriegerische Drohgebärde meist unverhohlen mit. Und verschweigt meist, dass die besten Geschäftspartner der zentralasiatischen Autokraten bislang vor allem im Westen zu finden waren.