Bleiben die Kriegsverbrechen in Berg-Karabach ungesühnt?

Am 11. Dezember 2020 hielt Aserbaidschan in seiner Hauptstadt Baku eine triumphale Siegesparade ab. Genau einen Monat zuvor hatte ein von Moskau initiierter Waffenstillstand die Waffen in Berg-Karabach zum Schweigen gebracht und den überwältigenden Sieg Aserbaidschans über Armenien besiegelt. Nun wollte Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew diesen Sieg gebührend feiern. Und er wollte seinem Volk demonstrieren, dass Aserbaidschan unter seiner Führung zu einer neuen, erprobten regionalen Militärmacht aufgestiegen ist. Auf dem Podium, das von einem Meer aserbaidschanischer und türkischer Flaggen geschmückt war, sass neben Alijew der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. Dieser Krieg ging, darin stimmen die meisten Beobachter überein, in erster Linie auf die Türkei Erdogans zurück. Den heutigen Machthabern von Ankara schwebt nämlich eine Türkei vor, deren Einfluss vom östlichen Mittelmeer über das Kaspische Meer bis zur chinesischen Grenze reicht. In diesem grössenwahnsinnigen Plan ist der Sieg über Armenien, der die direkte Verbindung zwischen Aserbaidschan und der Türkei ermöglicht, nur die erste Etappe.

Einschüchterung 

Während der Siegesparade gelobten beide Staatsoberhäupter die engen kulturellen und historischen Banden ihrer Völker nach dem Motto «zwei Staaten und ein Volk». In seiner Rede rühmte Erdogan zudem den Geist von Enver und Nuri Pascha: «Mögen heute die Seelen von Nuri Pascha, Enver Pascha und den tapferen Soldaten der Kaukasischen Islamischen Armee glücklich sein.» Nuri Pascha liess 1919 in Berg-Karabach die armenischen Viertel der damals noch multikulturellen Stadt Schuscha in Schutt und Asche legen und bis 30‘000 Einwohner ermorden. Und Enver Pascha, dessen Erdogan im gleichen Atemzug gedachte, hatte 1915 als mächtiger Kriegsminister einen Völkermord verordnet, in dem die im Osmanischen Reich herrschenden Jungtürken ihre damals rund zwei Millionen Armenier vertrieben oder ermordeten – oder in den Worten des jüdischen Friedensnobelpreisträgers Elie Wiesel – «einen Holocaust vor dem Holocaust» begann. Es war – als Vergleich – als hätte Bundeskanzlerin Angela Merkel heute den Seelen Hitlers und Eichmanns ewige Ruhe gewünscht.

Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew seinerseits beanspruchte die armenische Hauptstadt Jerewan als Aserbaidschans historisches Land: «Während des Kriegs habe ich gesagt, dass unsere eiserne Faust sowohl unsere Einheit als auch unsere Stärke verkörpert. Diese eiserne Faust brach dem Feind das Rückgrat und zertrümmerte seinen Kopf. Wenn der armenische Faschismus jemals wieder sein Haupt erhebt, wird das Ergebnis dasselbe sein.» Aserbaidschan und die Türkei spielten bewusst mit der Urangst der armenischen Bevölkerung vor einer Wiederholung des Genozids und setzten ungehemmt auf Einschüchterung. «Wenn eine Kakerlake in der Küche geboren wurde, bedeutet das nicht, dass auch die Küche ihm gehört», postete im Januar ein aserbaidschanischer Twitter-Nutzer. Damit meinte er die Armenier, die seit Jahrhunderten Ureinwohner Berg-Karabachs sind. Neben seinen Tweet setzte er eine neue Briefmarke, die die Regierung Alijew drucken liess und auf der die «Ausräucherung» Berg-Karabachs abgebildet wird.

Paradebeispiel für moderne Kriegsführung?

Der zweite Krieg um Berg-Karabach begann am 27. September 2020, als aserbaidschanische Truppen, unterstützt vom türkischen Militär und dschihadistischen Söldnern im Auftrag der Türkei, diese zwischen Armenien und Aserbaidschan historisch umstrittene Region angriffen. Er endete nach 44 Tagen mit einer demütigenden Niederlage Armeniens.

Der britische Filmemacher Emile Ghessen, der alle 44 Tage in Berg-Karabach filmte, führt dieses Resultat auf zwei Hauptfaktoren zurück: Aserbaidschan habe dank seinen Militärdrohnen und Kampfrobotern «von Beginn an ‹the skies› (die Lufthohheit) kontrolliert», sagte er der armenischen Presseagentur Civilnet. Die armenischen Truppen hätten dieser hochraffinierten Kampftechnologie wenig entgegenzusetzen gehabt und seien schutzlos wie Schlachtvieh gefallen. Aserbaidschan habe zweitens, so Emile Ghessen, dank seinen Petrodollars den Informationsfluss kontrolliert und im Propagandakrieg die Oberhand gehabt.

Tatsache ist, dass Aserbaidschan seinen sagenhaften Ölreichtum dazu genutzt hat, um ein geopolitisches Druckmittel aufzubauen. Das ausgebaute Netz von Pipelines, die den Weltmarkt mit Erdgas und Öl aus dem Kaspischen Meer versorgen, schaffen Abhängigkeiten. Dazu darf auch die neue «Transanatolian Natural Gas Pipeline» (TANAP) gezählt werden, welche für die Versorgung Europas besonders wichtig ist. Der Präsident Aserbaidschans Ilham Alijew sowie Ölriesen wie SOCAR und ihre weltweit verstreuten Filialen sind zudem dafür bekannt, mit grosszügigen «Geschenken» eine starke Lobbymacht und einen mächtigen Informationsapparat entwickelt zu haben. (Auch in der Schweiz sollten die Autofahrer an diesen Krieg denken, wenn sie an SOCAR-Tankstellen ihre Fahrzeuge betanken. Anm. des diensttuenden Redaktors cm.)

Tatsache ist auch, dass es in der Weltöffentlichkeit keine Entrüstung, nicht mal eine nennenswerte Reaktion gab. Die Presse hielt sich schmerzhaft zurück und wiederholte monoton den Satz: «Armenien und Azerbaidschan werfen sich gegenseitig vor», als handelte es sich nicht um aggressiven Angriffskrieg. Ähnlich wie die Presse verhielt sich auch die internationale Diplomatie. Sie machte die Narrative Bakus geltend, wonach Berg-Karabach völkerrechtlich Teil Aserbaidschans sei. 1921 hatte Stalin Berg-Karabach Aserbaidschan zugeschlagen. Die Karabacher Bevölkerung, seit alters her hauptsächlich Armenier, rang aber noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion um ihre Unabhängigkeit. Im ersten Krieg um Berg-Karabach (1991-1994) brachten armenische Truppen Berg-Karabach sowie sieben umliegende aserbaidschanische Provinzen unter ihre Kontrolle. Seither strebte Jerewan eine Anerkennung der Unabhängigkeit Berg-Karabachs an, ohne Erfolg, und lehnte eine Rückgabe der sieben aserbaidschanischen Provinzen vor der angestrebten Unabhängigkeit stur ab. Und dennoch: Genügt dieses Argument, um einen zerstörerischen Angriffskrieg und die grobe Verletzung des ebenso internationalen Rechts der Völker auf Selbstbestimmung schweigend hinzunehmen?

Digitale Zaungäste an der Frontlinie 

Während der 44 Tage andauernden gewaltsamen Auseinandersetzungen haben beide Seiten schwere Kriegsverbrechen beklagt. Der kanadische Journalist Fin de Pencier begleitete während seiner Reise letzten November ein Team französischer Ärzte, die in Armenien Opfer der chemischen Waffe «weisser Phosphor» behandelte. Aserbaidschan hatte diese teure, hochgiftige chemische Waffe im Süden Berg-Karabachs offensichtlich massiv eingesetzt.

Noch ein Grund hob laut Fin de Pencier diesen Krieg von allen vorherigen ab: Das Internet machte es diesmal möglich, «die gesamte Bevölkerung digital an der Frontlinie zu beteiligen und direkt Zeuge der vom Feind begangenen Gräueltaten zu werden».  Die Armenier Armeniens, aber auch die Armenier in der Diaspora in Los Angeles oder in Paris, konnten zeitgleich mitverfolgen, wie Berg-Karabachs Städte und Dörfer sowie deren Infrastruktur bombardiert und zerstört wurden. Sie konnten digital auch mitverfolgen, wie aserbaidschanische Soldaten armenische Gefangene enthaupteten, folterten oder ihre Leichen verstümmelten. Einschüchterung als Mittel zur Vertreibung schien zentraler Teil der Strategie in diesem zweiten Krieg zu sein.

Am 12. Februar veröffentlichte das türkische oppositionelle Internet-Portal Ahval eine Liste mit Namen jener Personen, die mutmasslich für schwere Menschenrechtsverletzungen in Berg-Karabach verantwortlich sind. Ganz oben auf der Liste steht Sayf Balud beziehungsweise Sayf Abu Bakr. Balud führt seit 2016 die sogenannte Hamza-Division der Syrischen Nationalarmee (SNA), die unter der Schirmherrschaft der Türkei auch an der Operation «Olivenzweig», der Invasion im kurdischen Afrin Nordsyriens, beteiligt war. Die Liste enthält die Namen noch mehrerer Dschihadistenführer wie etwa Fehim Isa (Isa al-Turkmani). Dieser leitet seit mindestens 2015 die SNA-Division Sultan Murad und war ebenfalls an der Operation «Olivenzweig» beteiligt. In Afrin werden sie für ruchlose Verbrechen wie Vergewaltigungen und Entführungen, Zwangsvertreibungen, Folter und Exekutionen verantwortlich gemacht.

Dass Dschihadisten oder die Türkei direkt bei Kriegshandlungen in Berg-Karabach beteiligt gewesen seien, wurde von Baku stets dementiert. Nun berichtet Ahval, dass der Chef des türkischen Geheimdienstes (MİT) Hakan Fidan höchstpersönlich die Berg-Karabach-Operation orchestriert habe. Hakan Fidan dürfte wohl die rätselhafteste und mächtigste Figur im Gefolge Erdogans sein. Der türkische Generalmajor Göksel Kahya, Leiter des 1. Versorgungs- und Wartungszentrums der türkischen Luftwaffe, soll ferner den Einsatz der türkisch gefertigten Bayraktar TB2-Drohnen in Libyen und Berg-Karabach geleitet haben. Die Liste Ahvals stützt sich auf eine Forschungsarbeit der Columbia-Universität, die unter dem Titel „Artsakh Atrocities“ veröffentlicht worden ist.

Armenien am Boden

Der Krieg und die demütigende Niederlage haben Armenien in eine schwere existenzielle Krise gestürzt. Abgesehen von den territorialen Verlusten hat das Land rund 3‘500 Tote und doppelt so viele Invalide zu verkraften. Das ist ein sehr hoher Preis für die kleinste Republik des Südkaukasus und ihre 2,5 Millionen Einwohner. Abertausende Familien, die ihre Männer, Söhne oder Väter und damit ihre Broterwerber verloren haben, sowie 40‘000 Vertriebene aus Berg-Karabach sind in bittere Armut gestürzt. Noch wichtiger: Der 44-tägige Krieg beraubte den Armeniern die bisherige Gewissheit, dass die strategische Allianz mit Russland dem Land Schutz gewährt und seiner Bevölkerung innerhalb der Grenzen Sicherheit gibt. Und die eigene politische Führung erwies sich als absolut unfähig, die Krise irgendwie zu meistern. Die Armenier fühlen sich verraten und sind verzweifelt.

Drei Monate nach Ende des Krieges fürchtet die armenische Bevölkerung, dass sich künftig auch andere Autokraten an Alijew und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ein Beispiel nehmen könnten, um kleineren Staaten ihren Willen einfach mit kriegerischen Mitteln aufzuzwingen. Die Antwort auf die Frage, ob die Verbrechen dieses Kriegs geahndet werden oder ungesühnt bleiben, dürfte dabei wegweisend sein. Erst eine international überwachte Aufarbeitung aller Kriegsverbrechen, etwa nach dem Vorbild des Jugoslawien-Tribunals, könnte nämlich den Armeniern und Armenierinnen die tiefsitzende Angst nehmen, wie anlässlich des Genozids im Jahr 1915 auch im 21. Jahrhundert wieder Opfer eines Vernichtungskrieges zu werden.